Förderpreis für Literatur 2023

Das Land Burgenland vergibt seit 1993 Literaturpreise, seit 2004 alternierend für ein abgeschlossenes Werk bzw. für ein in Arbeit befindliches Werk in Form eines Stipendiums vergeben. 15 Autorinnen und 11 Autoren wurden seither ausgezeichnet.

2023 gelangte der Literaturpreis für ein in Arbeit befindliches Prosa- oder Bühnenwerk zur Ausschreibung. Aus den drei teilnehmenden Autorinnen und fünf Autoren entschied die Jury, den mit 5.000 Euro dotierten Preis an Raoul Eisele für seinen Text „Versuch im Nachempfinden“ zu verleihen.

Der Jury gehörten an: Karin Ivancsics; Prof. Gerhard Ruiss; Mag.a Katharina Tiwald

Die Jury begründete diese Entscheidung wie folgt: Raoul Eisele, der bereits mehrere Publikationen im Bereich Lyrik vorgelegt hat, erstattet in diesem „poetischen Essay“ im Grenzbereich von Prosa und Lyrik Bericht einer Begegnung, einer gegenseitigen Einlassung zweier Menschen unterschiedlichen Geschlechts sowohl aufeinander als auch auf die Genese des eigenen Körperbewusstseins: wie sind wir geworden, wer wir sind? Was hat sich in unsere Körper eingeschrieben, was hat sie geprägt? Dabei stützt sich Eisele im weitesten Sinn auf Judith Butlers Konzept, das Geschlechtsidentität als performativ beschreibt, also durch eigenes Handeln, durch soziale Praxis dargestellt und ständig erneuert. Dabei bildet ein Körper mit seiner individuellen Geschichte einen Teil der Gesellschaft, die ihrerseits aus Körpern besteht – also aus Menschen, die in ihrer sozialen Praxis Geschichte wiederum produzieren, physisch weitertragen und andere Menschen – nicht zuletzt die eigenen Kinder – durch diese Praxis mitprägen.

Die Umsetzung dieses Konzepts ist aufs Beste gelungen, sofort hat der Leser/die Leserin eine Vorstellung davon, wie solche „Körperspuren“ in persönlicher Erzählung identifizierbar werden. Sorgfältig eingesetzte Zitate werden in dieser Wort-Umgebung plastisch greifbar, der Philosoph Spinoza etwa erscheint plötzlich in höchstem Grad heutig, und auch die luftigen aktuellen Konzepte, auf die Raoul Eisele sich stützt, werden auf die Erde und in die Anschaulichkeit geholt. Eiseles Arbeit ist Körperarchäologie, ist Chronik von Gewalterfahrung unterschiedlicher Grade, ist hochpräzise Wortfindung und inmitten des Strudels kurzlebiger Fiktionen wohltuend ernst, mitten im Spiel von Prosa und Lyrik.

 

Raoul Eisele wurde 1991 in Eisenstadt geboren, wohnt in Wien wo er Germanistik und Komparatistik studierte. Abseits der Poesie ist er am Theater und bei Hörspielproduktionen tätig. Er ist Mitglied der GAV (Grazer Autorinnen Autorenversammlung), Mitbegründer der Zeitschrift process*in sowie der Lesereihe Mondmeer & Marguérite.

Aktuelle Erscheinungen:

  • oder ein Schiefer im Stamm, Theater Kosmos Bregenz, Jänner 2023;
  • immer wenn es ein wenig den Himmel entlang grollt, Maman, Berlin: Schiler & Mücke,2023;
  • I REALLY LIKED YOU PIGGYBOY, Theaterforum Schwechat, November 2023;

Performativ war er zuletzt 2022 am WERK X im Stück Eskalation ordinär zu sehen sowie beim steirischen herbst in der Produktion The Theatricality of a Postponed Death. Zusammen mit Maren Streich entstand 2022/23 das performative Ergreifen von Mut mit dem Stück Courage, Courage & Grießbrei. Weiters war er zuletzt neben Lea Menges Herausgeber der FLINTA*-Lyrikanthologie habe bewurzelte Stecklinge, Oberwart: edition lex liszt 12.

 

Roul Eiseles Auszüge aus „Versuch im Nachempfinden“, welche die Jury einstimmig überzeugten, beeindruckten ebenso den Verlag Haymon, der das Buch, das derzeit im Entstehen ist, 2024 veröffentlichen wird.

Auszug:

III.
Schreiben heißt, sich selbst ausliefern
Tove Ditlevson

was nenne ich Schreiben?
nenne ich es Widerstand? nenne ich es Kampf oder Revolte?
vielleicht lieber Denken; Schreiben heißt: Denken über den
Zustand im Sein, im Jetzt und der Reflexion danach oder nenne
ich Schreiben einen Zustand der Ermächtigung, nicht der
Bemächtigung wie es oft der Fall ist, denn die Stimmen der
Schreibenden, die man scheinbar nie las, sah oder hörte, es
jedenfalls vorgeben wollte, gab es immer, sie waren ja da, waren
gedruckt und selbst, wenn sie nur im Kleinen vorhanden, sind sie
es, die wir heute wiederholen, entdecken oder ausgraben; nenne
ich Schreiben also graben oder Gräben überwinden, nenne ich es
Brückenschlagen im Nachempfinden, ein Nacheifern im Denken
der Vordenkenden oder Pionier*innen; was nenne ich Schreiben
anderes als Komplott oder Aufstellung zum Angriff, Ausstellen
des eigenen Körpers oder wie Édouard Louis: Anleitung ein
anderer zu werden, die Anwendung des eigens Erlebten durch den
Körper geschickt und darüber hinaus Annäherung erfahren mit
sich und der Umwelt, seiner Umgebung und den Menschen, der
Kunst und seinen Wortmüttern (FP), -vätern, der eigenen, inneren
Sprache; was nenne ich Schreiben anderes als …

 

Bildnachweis: Vanessa Lang